In unzähligen Diskussionen, Beratungsgesprächen und handfesten Disputen fällt immer wieder dieser Satz, der regelrechte Glaubenskriege auszulösen und die Pferdewelt in “Rassefetischisten” und “Pferderetter” zu teilen scheint: “Auf Papieren kann man nicht reiten!”
Die Zuschreibungen und Vorurteile der einen Gruppe gegenüber der anderen sind beiderseitig oft abenteuerlich und nicht selten bösartig, hämisch und vor Polemik strotzend – und somit ein Anlass, sich der Thematik einmal unaufgeregt, sachlich und in aller Ruhe zu widmen.
In erster Linie gilt es wohl, einige Fakten zu definieren und klarzustellen.
Hervorragendes Papier unter dem Sattel – Zen ‘fan Panhuys’ Ster Sport-Elite (Dries 421 x Fabe 348 P)
Von nichts kommt nichts
Alle heute lebenden Hauspferde, aber auch die verwilderten Populationen von Brumbys, Mustangs etc. sind wissenschaftlichen Erkenntnissen folgend Angehörige einer domestizierten Form des Wildpferdes (Equus ferus) – die letzte überlebende Unterart dieses einst offenbar formenreichen Artenkomplexes bildet das gefährdete, in der Mongolei beheimatete Przewalski-Wildpferd (Equus ferus przewalski).
Die Stammform der heute rezenten Hauspferde ist nicht eindeutig geklärt (vgl. Wallner et al. 2003; Jansen et al. 2002), Fakt ist aber, dass alle Hauspferde Produkte eines über Jahrtausende anhaltenden Domestikationsprozesses sind.
Die unter dem Domestikationsprozess verstandene “Haustierwerdung” einer Spezies ist maßgeblich durch den Faktor der bewussten oder unbewussten menschlichen Zuchtwahl bei gleichzeitiger Isolation von der wildlebenden Population gekennzeichnet – es findet also eine genetische Veränderung der Spezies aufgrund gezielter Selektionszucht durch den Menschen statt (vgl. Zeder 2012).
Die Aufgliederung der domestizierten Grundform in verschiedene Rassen ist wiederum eine Verfeinerung dieser selektiven Zuchtpraxis. Es kann also die Schlussfolgerung erfolgen, dass alle heute lebenden Hauspferde – egal ob per definitionem einer Rasse zugehörig oder nicht – Produkte selektiver, durch den Menschen gesteuerter Zucht sind.
Dass im Zuge dieser Zuchtwahl mancherorts Buch geführt wird, ist dabei lediglich ein Nebeneffekt – egal ob mit oder ohne Papier, eine Nutzbarmachung der Spezies Equus ferus gelang erst durch gezielte Auslese und züchterische Veränderung. Vereinfacht könnte man also sagen: NUR auf Papieren kann der Mensch reiten, denn ohne generationenlange Zuchtwahl wären Hauspferde in ihrer heutigen Erscheinungsform nicht existent und Reiter würden sich mit der ungezähmten Wildheit von Tarpanen und Thakis konfrontiert sehen.
“Rassepferd” vs. “Weideunfall”
Nun ist die Thematik rund um’s Papier aber etwas diffiziler, als oben dargestellt. Die von Zuchtverbänden ausgestellten Abstammungspapiere sind per se als Dokumentation der Herkunft eines Individuums gedacht und sollen demnach nicht nur die lückenlose Abstammung aus registrierten und der betreffenden Rasse zugehörigen Ahnen beweisen, sondern auch eine klare Abrenzung einer Rasse vom Rest der Hauspferdepopulation schaffen. Wie bereits erwähnt, basiert die Rassezucht auf dem selben Prinzip wie die Domestikation im Allgemeinen, engt aber die grundlegenden Selektionskriterien auf eine Weise ein, die eine mehr oder weniger klare Unterscheidbarkeit einer Subpopulation (Rasse) zum Rest der Population möglich machen – die Möglichkeiten sind dabei mannigfaltig und reichen von Körperbau, Größe, Farbe, Gangvermögen und Gebrauchsveranlagung, bis hin zu Temperament und Charakter.
Mit dieser Verengung und Festschreibung der Selektionskriterien (der oft zitierte “Rassestandard”) wird auch eine Organisation der betreffenden Züchter notwendig, um eine Populationsgröße zu ermöglichen, die eine tragfähige genetische Basis für den generationenlange Erhalt einer Rasse bildet – so kommen Zuchtverbände zu Stande, die sich mit der selektiven Zucht einer einzelnen Rasse auseinandersetzen und diese organisatorisch voran treiben. Heute ist es üblich, dass die Hohheit über die Definition der Selektionskriterien sowie die damit verbunde Zulassung von Rasseindividuen zur Zucht bei eben diesen Zuchtverbänden liegt, die damit ein Mindestmaß an Qualität hinsichtlich der definierten Rasseeigenschaften in der Population zu implementieren versuchen – es hat demnach einen tieferen Sinn, warum in einem geschlossenen Rassestammbuch nicht jeder Hengst und jede Stute ohne Begrenzung zur Zucht herangezogen werden darf, sondern insbesondere die Hengste mehr oder weniger strenge Auflagen zu erfüllen haben, ehe sie ihren züchterischen Einfluss an die nächste Generation weitergeben dürfen. Damit einher geht auch die permanente Veränderung von Rassepopulationen, die in Anbetracht sich wandelnder Anforderungen (am Beispiel des Friesen sei die immer öfter geforderte Sporteignung genannt) notwendig ist, um ein Fortbestehen einer Rasse zu gewährleisten – denn wo keine Nachfrage besteht, kann keine Pferderasse auf Dauer existieren.
Das Abstammungspapier ist demnach – sofern von einem seriösen und qualitätsbewussten Verein ausgestellt – ein Garant für ein Mindestmaß an Qualität hinsichtlich Zuchtwahl der Vorfahren eines Pferdes. Es macht aber noch lange kein “gutes” Pferd!
Weide, ganz ohne Unfall – Freyja fan Limbach (Erryt 488 x Jerke 434)
Denn ohne mit der Wimper zu zucken, wage ich zu behaupten, dass es auch ganz hervorragende Pferde gibt, die über keinerlei Abstammungspapier verfügen.
Dies begründet sich in der Launenhaftigkeit der Natur – die Zucht von Tieren ist immer auch ein bisschen Glückssache und die Kombination von Genen zweier Elterntiere ist immer zu einem gewissen Teil ein “Lotteriespiel”. So kommt es vor, dass die Nachkommen zweier absoluter Topper nur “durchschnittlich” sind, wohingegen ein Fohlen aus der ungeplanten Weideliaison zweier Durchschnittspferde sich zu einem hervorragenden Gebrauchspferd mausert.
Nichtsdestotrotz ist die Wahrscheinlichkeit ungemein größer, ein Fohlen zu züchten, das gewünschten Kriterien entspricht, wenn die Vorfahren dieses Fohlens bereits über Generationen nach eben diesen Kriterien ausgewählt wurden – so wird ein Friesenfohlen in den allermeisten Fällen schwarz sein, eine hohe Aufrichtung und überdurchschnittlich viel Behang mitbringen.
Ein den eigenen Qualitätsvorstellungen entsprechendes Pferd aus einer gefestigten Zuchtlinie zu ziehen mag also so etwas wie “Lotto 6 aus 45” sein – ein ebensolches Pferd aber aus zufällig gewählten Eltern zu ziehen, die abstammungstechnisch nach unterschiedlichen oder ganz und gar zufälligen Selektionskriterien gezüchtet wurden, ist mehr wie “Lotto 6 aus 45.000.000”. Dieser Umstand macht es auch notwendig, einen kritischen Blick auf die Neuschöpfung von “Moderassen” zu werfen – viele dieser Rassen sind tatsächlich reine Kreuzungsprodukte und die daraus entstehenden Individuen weisen oft keine nennenswerten Ähnlichkeiten untereinander auf. Dabei von einer neuen Rasse zu sprechen ist demnach in einigen Fällen wahrlich abenteuerlich und spottet der züchterischen Sorgfalt und jahrzehntelangen Arbeit, die hinter der tatsächlichen Etablierung einer gefestigten Rassepopulation stehen.
Insofern haben Abstammungspapiere also durchaus ihre Berechtigung, wenn es um die Qualität und damit auch den finanziellen Wert des Einzeltieres geht. Über den ideellen Wert hingegen können sie kaum etwas aussagen.
Von Züchtern und Vermehrern
Ein weiteres großes Thema drängt sich in der Diskussion um die Wertigkeit von Abstammungspapieren auf – die Verantwortlichkeit von seriösen Züchtern in Zeiten des überbordenden Pferdemarktes.
Eine Eigenheit von Zuchtverbänden ist es nämlich, ihre Mitglieder einem (häufig festgeschriebenen und kontrollierten) Ehrenkodex zu unterstellen, der neben den Regeln hinsichtlich der Qualität der verwendeten Zuchtpferde auch deren ethische und tierschutzkonforme Haltung und Betreuung umfasst. Auch wenn es immer wieder “schwarze Schafe” unter den Vereinszüchtern gibt, so ist die Wahrscheinlichkeit auf ein in ordnungsgemäßen Umständen geborenes und aufgezogenes Pferd aus seriösen Züchterhänden doch recht groß, zumal dann, wenn man die Möglichkeit hat, die dortigen Zustände aufgrund des in den Papieren angebenen Zuchtortes mit eigenen Augen nachzuvollziehen.
Anders hingegen verhält es sich mit Pferden aus nicht nachvollziehbaren Quellen – die häufig euphemistisch als “Weideunfall” oder “Kind der Liebe” angebotenen Tiere ohne Abstammungspapier stammen nicht selten aus scharf kalkulierenden Vermehrerställen, in denen – ohne Rücksicht auf qualitative Zuchtwahl, tierärztliche Betreuungsnotwendigkeit oder tierschutzkonforme Unterbringung und Pflege – Pferde für das Billigsegment des Marktes produziert werden (erschreckenderweise in ähnlicher Form, wie das in Hundekreisen schon seit vielen Jahren publik ist).
Pferde aus solchen Quellen müssen dabei nicht per se “schlecht” oder krank sein, als Käufer muss man sich aber die Zuschreibung gefallen lassen, als Abnehmer eines Tieres aus derartigen Umständen – ob wissentlich oder nicht – indirekt zum Weiterbestand ebendieser beizutragen.
Ein schöner Start ins Pferdeleben – Frederik fan Limbach (Erryt 488 x Jerke 434)
Literaturverzeichnis
Jansen, T., Forster, P., Levine, M.A., Oelke, H., Hurles, M., Renfrew, C., Weber J. & Olek, K. (2002). Mitrochondrial DNA an de the origins of the domestic horse. In I. Verma (Hrsg.) PNAS, Ausg. 99/16, S. 10905 – 109010.
Wallner, B., Brem G., Müller, M. & Achmann, R. (2003). Fixed nucleotide differences on the Y chromosome indicate clear divergence between Equus przewalskii and Equus caballus. In H. Lenstra (Hrsg.) Animal Genetics, Ausg. 34/6, S. 453 – 456.
Zeder, M.A. (2012). Pathways of Animal Domestication. In P. Gepts (Hrsg.) Biodiversity in Agriculture: Domestication, Evolution, and Sustainability, S. 227 ff.